"Die Kriminalisierung von Menschen bringt nachweis-lich das meiste Leid"

Frank Brandse
05 Nov 2021

Das internationale "Global Cannabis Cultivation Research Consortium" (GCCRC) wurde 2009 gegründet, um die wachsende Bedeutung des heimischen Anbaus und die damit einhergehende Entwicklung der Cannabismärkte streng wissenschaftlich zu beobachten. Seitdem führte es eine Reihe von Umfragen unter Homegrowern in 11 Industrieländern durch, um mehr über die Menschen herauszufinden, die Heimanbau von Cannabis betreiben.


In der Schweiz werden die Umfragen des GCCRC von "Sucht Schweiz" und der Universität Lausanne koordiniert, in Deutschland vom "Centre for Drug Research" an der Goethe-Universität (Frankfurt am Main) unter Dr. phil Bernd Werse. Wir sprachen mit Dr. Werse über seine Sicht auf Cannabis, seine langjährige Drogenforschung an der Uni Frankfurt und die neueste Studie, die auch die Covid-Pandemie und ihre Auswirkung auf den Heimanbau von Cannabis beleuchtet.

 

Woraus resultiert Ihr Interesse an Drogen und wie sind Sie Drogenforscher geworden?

Das fing bei mir schon in der Studienzeit in den 90er Jahren an, als ich mich zeitgleich auch in der damaligen Legalisierungsbewegung engagiert habe. Zu der Zeit habe ich an der Uni Frankfurt auch Seminare besucht, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt haben, und ich fand das ganz interessant. Das galt auch für die Ungerechtigkeiten, die ja zum Teil noch immer mit diesem Thema verbunden sind. Über die Schieflagen der Drogenpolitik kann man ja heute teilweise immer noch genauso diskutieren. Insofern kam da persönliches Engagement mit wissenschaftlichem Interesse zusammen - so bin ich schließlich in den Job reingewachsen, den ich auch heute noch ausübe und in dem ich sozialwissenschaftliche Drogenforschung betreibe.

 

Kann man Soziologie direkt mit dem Schwerpunkt Drogen studieren oder ist das eher eine Art Basis-Studium, das einem später ermöglicht auch in diese Richtung zu gehen?

Tatsächlich kann man Soziologie nicht direkt mit diesem Schwerpunkt studieren, man kann sich aber ein Thema aus diesem Bereich aussuchen, und zum Beispiel seine Abschlussarbeit darüber schreiben. So habe ich das damals gemacht. Wie ich finde, ist dieses Thema an deutschen Unis immer noch sehr stark unterrepräsentiert - daher sind wir eine von nur wenigen Forschungsstellen, die sich aus soziologischer Sicht mit diesem Thema beschäftigen.

 

Wenn an anderen Unis oder Fachhochschulen im Bereich Drogen geforscht wird, dann geschieht das meist aus einer medizinischen oder sozialpädagogischen Sichtweise. Wenn man sich aber mal ganz wertfrei mit Drogenkonsum und -handel und auch allem Weiteren in diesem Bereich beschäftigen will, wo es eben NICHT um Abhängigkeit oder die Schäden des Konsums geht, dann hat man dafür in Deutschland nur wenige Möglichkeiten. In anderen Ländern sieht das ein bisschen anders aus.

 

Warum ist es für Sie überhaupt interessant zu erforschen, ob die Leute mehr oder weniger zuhause anbauen und wie sich deren Anbauverhalten während der Pandemie entwickelt hat?

Aus soziologischer Sicht interessiert uns dabei vor allem das Spannungsfeld zwischen Legalität und Illegalität, in dem sich Homegrower bewegen. So ist die Tatsache, dass Menschen zu Hause Cannabis anbauen, eine direkte Folge der Tatsache, dass Cannabis verboten ist. Für uns ist es daher interessant zu erforschen, warum sich Menschen dafür entscheiden, ihr Cannabis selbst illegal anzubauen anstatt es weiterhin auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, welche Vorsichtsmaßnahmen sie beim Eigenanbau treffen oder welche Risiken sie ganz bewusst eingehen.

 

Die Ergebnisse vergleichen wir dann mit den Ergebnissen aus anderen Ländern, sodass wir danach ganz konkret aufzeigen können, dass zum Beispiel der illegale Eigenanbau von Cannabis in manchen Ländern viel riskanter ist, als in anderen. Da auch Länder vertreten sind, in denen Cannabis inzwischen weitgehend legalisiert wurde, haben wir nun noch mehr Möglichkeiten für interessante internationale Vergleiche zu der Frage, warum Menschen Cannabis daheim anbauen.

 

Haben diese gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse auch irgendeinen konkreten Nutzen?

Da möchte ich mit einer Gegenfrage antworten: muss denn immer alles einen ganz konkreten Nutzen haben?

 

Kunst vermutlich nicht, aber Wissen-schaft doch eigentlich schon, oder?

Nun, es gibt ja auch in der Wissenschaft gewisse Bereiche, die eher Grundlagenforschung betreiben. Und wir machen in gewisser Weise Grundlagenforschung dazu, warum sich Menschen entscheiden, Cannabis daheim anzubauen. So können wir deren Motive besser verstehen und wissenschaftliche Empfehlungen für die Politik formulieren. Wenn wir zum Beispiel aufzeigen können, dass der Grad der staatlichen Repression gar keinen großen Einfluss auf das Homegrow-Verhalten der Menschen hat, dann könnte das ein wichtiges Signal an die Politik senden, ihre bisherige Verbotspolitik zu überdenken.

 

Okay, das wäre dann sogar ein großer Nutzen, aber welchen Einfluss haben solche wissenschaftlichen Studien tatsächlich auf die Entscheidungen der politisch Verantwortlichen? Ich habe oft den Eindruck, dass Experten zwar gerne angehört werden, ihren Empfehlungen aber nur dann gefolgt wird, wenn sie den politischen Entscheidungsträgern gelegen kommen... Das sind tatsächlich dicke Bretter, die man da zu bohren hat. Aber wenn man sich die drogenpolitische Landschaft in Deutschland mal etwas genauer anschaut, dann muss man schon sagen, dass sich da seit den 90er Jahren eine ganze Menge getan hat. Besonders im Bereich der gesellschaftlichen Meinungsbildung, denn hier nähern wir uns langsam der Mehrheit, was die Frage nach der Zustimmung zu einer Cannabis-Legalisierung betrifft.

 

Das spiegelt auch die heutige Medienlandschaft wieder, ebenso Teile der Politik - schließlich ist inzwischen sogar die FDP für eine Legalisierung. Und auch immer mehr Wissenschaftler aus den verschiedensten wissenschaftlichen Teilbereichen sprechen sich mittlerweile für eine liberalere Drogenpolitik aus und befürworten eine weitgehende Legalisierung von Cannabis. Das war vor 20 Jahren noch ganz anders. Damit will ich nicht sagen, dass das ein Verdienst der Wissenschaft ist oder dass man als Wissenschaftler großen Einfluss auf die Politik hat, aber einen gewissen Einfluss hat man schon, wenn man zum Beispiel neue Erkenntnisse oder Studien präsentieren kann.

 

Warum hören Drogenpolitiker so selten auf Wissenschaftler, obwohl sie deren Fachkompetenz eigentlich nie infrage stellen?

Ich glaube, das hat viel mit traditionellen ideologischen Schranken zu tun. So haben vermutlich auch heute noch die meisten CDU- oder CSU-Mitglieder im Hinterkopf, dass illegale Drogen allesamt schlecht und daher zurecht verboten sind. Während Alkoholkonsum nicht groß hinterfragt wird, lehnen diese Menschen eine Liberalisierung der Drogenpolitik konsequent ab. Aber wie gesagt: insgesamt geht der gesellschaftliche Trend schon ganz deutlich in Richtung Liberalisierung.

 

Sollte man also lieber über sämtliche Rauschsubstanzen sachlich aufklären und sämtliche bisher noch verbotenen Drogen legalisieren?

Als Sprecher des "Schildower Kreises" bin ich natürlich gegen jegliche Drogenprohibition und strikte Verbote. Egal, um welche Droge es sich handelt. Meiner Meinung nach wäre die Entkriminalisierung von allen Drogenkonsumenten derzeit sogar noch wichtiger für unsere Gesellschaft, als beispielsweise die Legalisierung von Cannabis.

 

Denn diese Kriminalisierung von Menschen bringt nachweislich das meiste Leid mit sich - nicht nur, wenn sie konkret bestraft werden, sondern auch, wenn sie "nur" registriert und dabei diskriminiert werden. Es bringt überhaupt nichts, Menschen zu bestrafen, die sich höchstens selbst schädigen. Länder wie Portugal haben das längst begriffen, gehandelt und dabei sehr gute Erfahrungen mit der vollständigen Entkriminalisierung aller Drogen gemacht.

 

Und wann wird das ein Land wie Deutschland begreifen und handeln?

Das ist schwer zu sagen, denn leider geht es in Deutschland in den letzten Jahren wieder in die andere Richtung. Die Zahl von kriminalisierten Menschen, die wegen Konsumdelikten aufgegriffen wurden, steigt jedes Jahr weiter an - in den Jahren zwischen 2012 und 2020 zum Beispiel um insgesamt 66 %! Das geht ganz klar gegen den internationalen Trend, nach dem sich immer mehr Leute für eine Liberalisierung der Drogen-politik aussprechen.

 

Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass die für User und Gesellschaft gefährlichsten Drogen nach wie vor legal zu haben sind? Ich spreche hier natürlich von Alkohol und Nikotin...

In der Wissenschaft ist es mittlerweile nahezu Konsens, dass der aktuelle Status Quo nicht mehr hinnehmbar ist. Und auch wenn sich in Sachen Nikotin und Tabakprodukte schon einiges geändert hat - Steuererhöhungen, Rauch- und Werbeverbote etc. - traut man sich an Alkohol nach wie vor nicht ran. Ich habe nur selten erlebt, dass zum Beispiel jemand ernsthaft ein Werbeverbot für Alkohol gefordert hätte. Wir werden demnächst wieder den alternativen Drogen- und Suchtbericht herausbringen, in dem Alkohol ein Schwerpunkt-Thema sein wird. Damit versuchen wir als Wissenschaftler auf diese grobe Fehleinschätzung der Politik in Sachen Drogengefährlichkeit hinzuweisen. Wir wollen hier keine neuen Verbote, aber es gibt noch viele andere Möglichkeiten, um den massenhaften Alkoholkonsum von großen Teilen der Bevölkerung zu reduzieren. Im Vergleich zu den Nachbarländern ist Deutschland Spitze im Pro-Kopf-Verbrauch, nirgendwo ist Alkohol so billig und so allgegenwärtig wie bei uns.

 

Glauben Sie, dass es in absehbarer Zeit auch in Deutschland zu einer weitgehenden Legalisierung von Cannabis als Freizeitdroge kommen kann?

Ja, ich glaube immer noch daran. Ob oder wann die Legalisierung aber wirklich umgesetzt wird, vermag ich nicht zu sagen. Über den "Schildower Kreis" haben wir ja immer wieder Kontakt zu Politikern, die sich dafür einsetzen, aber auch die können nicht wirklich einschätzen, ob und wie bald eine Legalisierung in Deutschland zu erwarten ist. Aber ich bleibe gespannt und auch ein wenig optimistisch.

 

Seit nunmehr 20 Jahren sind Sie aktiv in der Drogenforschung, einer Ihrer Schwerpunkte ist die "Drogentrendforschung". Wohin ging denn der Trend in Sachen Drogen in den letzten 20 Jahren?

Ganz grob kann man sagen, dass Anfang der Nullerjahre fast die Hälfte der Jugendlichen Erfahrungen mit Cannabis gemacht hatte und relativ viele davon auch regelmäßig konsumierten. Danach gingen die Zahlen deutlich runter, bis es dann Mitte des letzten Jahrzehnts wieder einen neuen Peak (einen neuen Höchststand) gab, was den Cannabiskonsum anging.

Diesen Trend konnte man nicht nur in Frankfurt, sondern in fast allen deutschen Großstädten feststellen. In den letzten zwei, drei Jahren ist der Cannabiskonsum nun wieder rückläufig und die Zahl der Jugendlichen, die Cannabis überhaupt ausprobierten, ist so niedrig wie noch nie in den letzten 20 Jahren.  Das erklären wir uns vor allem damit, dass es einen stark negativen Trend beim Rauchen gibt. Heute gibt es einfach viel weniger Jugendliche, die mit dem Rauchen anfangen.

 

Danke für das interessante Gespräch.

 

Text: M-Dog

 

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Frank Brandse