Abbaukurven: THC und Alkohol im Vergleich

24 Sep 2020

Wer nicht fahrtauglich ist, soll kein Fahrzeug lenken, da er damit sich und andere gefährdet. Kaum jemand wird das anders sehen, doch bis zu welchem Punkt ist jemand fahrtauglich? Ab wann ist man beeinträchtigt oder komplett fahruntauglich?


Der lineare Unterschied für den Straßenverkehr

 

Der deutsche Gesetzgeber hat Regelungen für den Alkohol getroffen. Fahranfänger müssen generell komplett nüchtern fahren, sonst verlängert sich die Probezeit um zwei Jahre, es gibt einen Punkt in Flensburg, eine Teilnahmepflicht zum Aufbauseminar und mindestens 250 Euro Bußgeld. Auch sonst drohen bereits ab 0,3 Promille bei der Gefährdung des Verkehrs 3 Punkte in Flensburg, der Entzug der Fahrerlaubnis und eine Geld- oder Freiheitsstrafe. Zugleich würde die Versicherung für verschuldete Schäden nicht aufkommen. Ab 0,5 Promille gibt es automatisch 2 Punkte in Flensburg, einen bis drei Monate Fahrverbot und 500 bis 3000 Euro Bußgeld, bei Wiederholungsfällen ist der Führerschein weg. 1,1 Promille aufwärts gelten als Straftat, der Lappen ist weg und es drohen eine Geldstrafe nach Tagessätzen oder sogar eine Freiheitsstrafe. Ähnliche Regeln gelten selbst für Fahrradfahrer.

[caption id="attachment_37518" align="alignnone" width="1920"] Alkohol – linearer Abbau[/caption]

Vielfach wird gesagt, dass 0,5 Liter Bier okay ist oder man nach einem Liter noch nicht sofort, etwas später aber schon fahren kann. Alkohol wird über die Leber abgebaut, es handelt sich um einen linearen Prozess, der sich relativ genau berechnen lässt. Ein Mann mit schlanken 80 kg baut ca. 0,15 Promille die Stunde ab; zur Sicherheit sollte mit 0,1 bis 0,15 gerechnet werden, da es Schwankungen gibt. Mit 1,5 Promille läge er nach sieben bis zehn Stunden unter den magischen 0,5 Promille, nüchtern wäre er nach zehn bis 15 Stunden. Wer nach der feuchtfröhlichen Party vor dem Schlafen noch seinen Schlummertrunk einnimmt, würde also nach dem Aufstehen angetrunken ins Auto steigen. Aber immerhin besteht die Möglichkeit auszurechnen, wann man wieder Auto fahren könnte, wenn ab dem ersten Drink des Abends mitgezählt und zu diesem Zeitpunkt der Abbau vom Gesamtalkohol berechnet wird.

Beim Cannabis ist das anders. In Deutschland gilt der Wert von 1 Nanogramm (ng) je Milliliter (ml) Blutserum, welcher 0,5 ng je ml Blut gleichkommt. Fast alle Länder, die einen Grenzwert festlegen, haben wenigstens 1 ng je ml Blut. In Deutschland war bis zu einem Urteil am Bundesverwaltungsgericht Leipzig dieses eine ng je ml Blutserum mit einem sofortigen Führerscheinentzug gleichzusetzen. Ist dieser einmal weg, kann es zeitintensiv und kostspielig werden, ihn wiederzubekommen. Doch mit dem Urteil vom 11.0 April 2019 darf eine einmalige Auffälligkeit nicht automatisch zum Führerscheinentzug führen, bei Fahranfängern, deutlichen Überschreitungen oder Mischkonsum ist das gewiss anders. Die Fahrerlaubnisbehörde ist jedoch berechtigt, die Fahreignung mit einer MPU zu überprüfen.

[caption id="attachment_37520" align="alignnone" width="1920"] Abbaukurve im Vergleich[/caption]

Deutschen Bürokraten reicht das nicht: Beim Alkohol geht es darum, ob man beim Führen eines Fahrzeuges angetroffen wird. Beim Cannabis kann die Kontrolle an einem ganz anderen Ort stattfinden und der Führerschein dennoch weg sein. Ein hoher THC-COOH Wert von 150 nach dem Konsum oder 75 einige Tage danach deuten auf einen Dauerkonsum hin. Dem Kiffer wird ein mangelndes Trennungsvermögen unterstellt.

Genau das ist das Problem, dass es bislang keine verlässliche Möglichkeit gibt, um die Konzentrationen von THC oder THC-COOH im Blutserum vorherzusagen. Der Grenzwert von 1 ng je ml Blutserum wurde einst deswegen festgelegt, da noch nicht genauer gemessen werden konnte, er hat also nichts mit einer möglichen Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit zu tun.

Wer Cannabis raucht, hat zuerst einen Peak von teils über 200 ng THC je ml Blut. Dieser Wert fällt innerhalb einer Stunde steil auf 20 ng ab – und von nun an in einer flachen Kurve. Die Wirkung kann vier bis sechs Stunden anhalten. Gegessene Cannabinoide werden zeitversetzt über die Verdauung aufgenommen, womit sich eine ganz andere, kaum abschätzbare Kurve einstellt. Die Wirkung dauert normalerweise bis acht Stunden.

Cannabinoide sind fettlöslich. Ist der Wert im Blut hoch, lagern sie sich im Fett ein. Sinkt der Blutwert, gibt das Fettgewebe die Cannabinoide wieder frei. THC-COOH hat vermutlich eine Halbwertszeit von sechs Tagen. Das bedeutet, dass der Wert sich alle sechs Tage halbiert, aber bei starken Konsumenten selbst nach mehreren abstinenten Monaten noch nachweisbar ist. Auch THC lagert sich im Fettgewebe ein, womit Dauerkonsumenten selbst nach einer abstinenten Woche noch positiv anschlagen.

[caption id="attachment_37519" align="alignnone" width="1920"] Mischkonsum – fast automatisch den Lappen abgeben[/caption]

Wer nur alle paar Monate kifft, müsste nach einigen Tagen wieder negativ auf THC und THC-COOH sein. Sieht der Dauerkonsument einer Drogenkontrolle entgegen, sollte er jedoch schon Monate vorher seinen kompletten THC-Konsum einstellen. Möglicherweise reichen auch CBD-Extrakte mit einem THC-Gehalt bis 0,2 für einen positiven Test. Wer das umgehen möchte, sollte hochkonzentrierte CBD-Extrakte oder THC-freie CBD-Extrakte verwenden.

Schweizer CBD-Produkte unterliegen derzeit einem THC-Grenzwert von einem Prozent. Wer in der Schweiz kifft oder diese CBD-Produkte in großen Mengen einnimmt, hat es mit anderen Grenzwerten zu tun. Es gelten 3 ng je ml Blut, umgerechnet also 6 ng im Blutserum. Für Berufskraftfahrer bei der Arbeit gilt davon die Hälfte.

Richtig schlimm und willkürlich ist es in Österreich – hier scheint es bislang keine definierten Grenzwerte zu geben. Sobald eine beliebige Menge THCs im Blut festgestellt wird, ist der Führerschein weg.

Cannabinoide bauen sich also nicht wie der Alkohol linear ab. Sie reichern sich zudem im Fettgewebe an und werden mit Halbwertszeiten wieder abgegeben. Aber auch dann ließe sich nie ein Messwert im Blut vorhersagen. Die einen haben einen höheren Fettanteil, andere treiben die Cannabinoide mit körperlicher Arbeit oder Sport schneller ins Blut, und weitere Faktoren wirken auf den nicht linearen Abbau von Cannabinoiden ein.

Seriöse Studien scheinen meist zu diesem Schluss zu kommen: Ab 4 bis 6 ng THC pro ml Blut tritt eine bedenkliche Beeinträchtigung ein, wie etwa bei 0,5 Promille Alkohol. Eine messbare Beeinträchtigung tritt ab 2 bis 3 ng THC pro ml Blut ein. Deswegen haben einige US-Bundesstaaten oder Länder einen Grenzwert von 5 ng THC pro ml Blut festgelegt. Gäbe es deswegen gehäuft schwere Unfälle, wäre das bereits bekannt und statistisch belegbar. Aufgrund dieser Erfahrungswerte fordern viele diesen Wert auch für Deutschland und andere Länder.

Würde der Grenzwert wenigstens auf 3 ng je ml Blut erhöht werden, wären die meisten Cannabis-Konsumenten, die fahrtauglich am Steuer geprüft werden, aus allem raus. Wie bereits beschrieben, fällt die THC-Konzentration nach dem Konsum zuerst steil auf 20 ng je ml Blut, dann in einer abflachenden Kurve. Bei den meisten Konsumenten wird die Schwelle von 5 ng nach ca. drei Stunden und die Schwelle von 2 ng nach 8 Stunden unterschritten. Dauerstoner sollten sich darauf jedoch nicht verlassen. Im Normalfall wäre mit dieser 3-ng-Schwelle der abendliche Joint oder das autofreie Wochenende aus der Gefahrenzone raus, bei 1 ng THC pro ml Blutserum jedoch nicht!

[caption id="attachment_37521" align="alignnone" width="1920"] Cannabinoide – abflachende Abbaukurve[/caption]

Anzumerken bleibt, dass nachweisbarer Mischkonsum mit Alkohol und Cannabis innerhalb der Grenzwerte wahrscheinlich dennoch zum Führerscheinentzug führt. Bei dem Nachweis der meisten anderen illegalen Drogen kann in Deutschland und vielen anderen Ländern ebenfalls mit dem sofortigen Führerscheinentzug gerechnet werden. Weiterhin dienen „Reaktionstests“, Schnelltests oder andere Maßnahmen nur als Untermauerung des Anfangsverdachts. Mit diesem geht es auf die Polizeiwache zur Blutentnahme, da bislang nur die Blutwerte gerichtsverwertbar sind. Bei einer Verkehrskontrolle sollte man also nur bei der Aufnahme der Personalien mitwirken und ansonsten nichts sagen, keine Reaktionstests mitmachen und alle Schnelltests ablehnen. Auch wenn die Beamten ausdauernd nerven, es besteht keine Verpflichtung dazu und soll nur den Anfangsverdacht der Beamten absichern. Diese könnten bei einer negativen Blutkontrolle auf Körperverletzung verklagt werden. So ist es zumindest in Deutschland.

Bis zu diesem Punkt wird das Thema aus allgemeiner Sicht behandelt, Patienten nehmen jedoch eine Sonderstellung ein. Diese sind aus medizinischen Gründen auf einen regelmäßigen Cannabiskonsum angewiesen. Für viele Patienten lässt sich praktisch ausschließen, unter 1 ng THC pro ml Blutserum zu liegen. Muss der Cannabis-Patient seinen Führerschein abgeben? Zum Glück nicht, da Ärzte der Schweigepflicht unterliegen und diese Details der entscheidenden Fahrerlaubnisbehörde nicht melden dürfen. Wer jedoch in eine Verkehrskontrolle gerät, muss auf nette Polizeibeamte hoffen. Diese können einen weiterfahren lassen, da man auf sein Medikament eingestellt ist, welches damit anders wirkt. Sie können aber auch einen Drogentest einfordern und die Ergebnisse der Fahrerlaubnisbehörde melden, die dann vermutlich den Führerschein einzieht.

Jede Gesellschaft muss versuchen, erkrankte und beeinträchtigte Menschen so gut es geht, am normalen Leben teilnehmen zu lassen. Noch vor dem Cannabis-Medizin-Gesetz gab es Cannabis-Patienten mit Ausnahmegenehmigung nach § 3 Abs. 2 BtMG, die auf eigene Kosten unter Cannabiseinfluss eine MPU gemacht haben. Sie konnten beweisen, dass sie unter Cannabis fahrtauglich sind und durften ihren Führerschein behalten. Das Risiko lautet jedoch, die MPU nicht zu bestehen und den Führerschein direkt abgeben zu müssen. Das aber ist die Möglichkeit, um nicht bei jedem Verkehrspolizisten ins Schwitzen zu geraten. Wer bereits nervös wirkt, wird erst recht kontrolliert.

Die derzeitige rechtliche Unsicherheit wird zum großen Problem. Richter wollen sich nicht weit aus dem Fenster lehnen und wagen höchstens Minischritte. Die Politik liebäugelt mit Pharmakonzernen und der einzelne Polizist wird nicht über den Umgang mit Cannabis-Patienten geschult. Einige glauben möglicherweise, dass ein ausgestelltes BtM-Rezept auch zum Fahren mit Restwerten berechtigt, andere legen einem direkt das Fahrzeug still.

Demnach bleibt zu hoffen, dass es nicht allein in Deutschland schnelle Fortschritte gibt. Es könnte zur Vereinfachung ein allgemeiner Grenzwert von 5 ng THC je ml Blut festgelegt werden. Außerdem sollten zumindest Patienten das Recht auf eine freiwillige MPU haben, um für sich einen höheren Grenzwert zu erhalten. Doch bis dahin werden viele fahrtaugliche Cannabis-Konsumenten noch tief in die Tasche greifend, laut fluchend ihr neues Fahrrad kaufen.