Trister Alltag eines Cannabispatienten

Soft Secrets
08 Dec 2019

Dom Lemcke im Interview


Mit dem Cannabis-als-Medizin-Gesetz ist es für Patienten einfacher, medizinische Cannabisblüten zu erhalten, auch wenn bei weitem noch nicht alles perfekt ist. Wie genau sah das Leben eines Patienten vorher aus und was hat sich geändert? Dies lässt sich nicht allgemein beantworten, doch Dom Lemcke gewährt uns Einblicke in seinen Lebensalltag. Er ist auf YouTube „Der Cannabist – Info, Aufklärung, Safer Use“.

Dom, ich habe schon einige deiner Videos gesehen. Erzähle unseren Lesern, wieso du Cannabispatient bist und wie diese Entwicklung ihren Lauf nahm.

Dom: Als ich 23 war, erkrankte ich an multipler Sklerose. 13 Jahre später habe ich einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 und ein ABC an Sonderzeichen. Nachdem das, wie ich es nenne, „Eigenanbau-Verhinderungsgesetz“ in Kraft trat, suchte ich innerhalb von sechs Monaten drei verschiedene Neurologen auf. Alle hätten mir bei unserer ersten Zusammenkunft mehr Opioide, Antidepressiva oder Neuroleptika aufgeschrieben. Aber bei Cannabis hört der Spaß auf. Einer beschimpfte mich im Wartezimmer als „Junkie“; das war der nette Onkel Doktor, der mir beim Erstbesuch problemlos eine große Packung Morphin verordnete.

Um das kurz festzuhalten: sämtliche mir angepriesenen „Alternativen“ sind das, was ich als Hammer-Drogen betrachte, alle verursachen stärkste Nebenwirkungen und einen Entzug! Cannabis tut das nicht und hilft mir sogar, weniger von den „harten“ Medikamenten zu brauchen. Ich glaubte ALLEN Ärzten, die mir immer wieder zu Opioiden statt Cannabis geraten haben. Nach der schlimmen Diagnose fiel es mir nicht schwer, abhängig davon zu werden. Letztlich war es der Hausarzt meiner Lebensgefährtin, der auf mich zukam. Ich hatte tatsächlich schon aufgegeben.

 

Ab 14 hast du schon einige Jahre gekifft und vermutlich nicht wenig. Hatte das bereits einen unbewussten medizinischen Charakter?

Dom: Definitiv. Ich hatte, als ich jünger war, Aufmerksamkeits-Probleme, aber statt Hyper-, war ich Hypoaktiv. Leider hat man mit 14 nicht die Voraussetzungen, um vernünftig mit Cannabis umzugehen.

Warst du in Deutschland einer der ersten, der Sativex erhielt? Du bist mit dieser standardisierten Fertigarznei mehr als nur unglücklich. Wieso?

Dom: Ich bekam recht früh Sativex verschrieben – es hat eine Zulassung für die Behandlung bei MS. Schnell habe ich gemerkt, dass das nicht im Geringsten vergleichbar mit Blüten gewesen ist. Ich hatte mehr Nebenwirkungen als positive Effekte. Die Brühe ist so scharf, dass es meine Mundschleimhaut angreift, was zu Entzündungen und Aphten führt. Außerdem hat mir Sativex eine Brücke „aufgelöst“, die brach dann heraus. Statt nur einem bis zwei Symptomen behandeln die Blüten bei mir bis zu zehn verschiedene Dinge. Begleitmedikation wie bei den Fertigarzneien brauche ich auch nicht.

Bist du ein Einzelfall, der auf die bisherige Fertigarznei empfindlich reagiert?

Dom: Nein, leider berichten viele Patienten davon, dass sie mit den „cannabisbasierten Medikamenten“ Nebenwirkungen haben – aber ich würde das in Kauf nehmen, würden sie mir ähnlich gut helfen. Das können sie aber unmöglich: In diesen Medikamenten wirken jeweils ein bis zwei Wirkstoffe. In den Blüten sind viele verschiedene Cannabinoide bekannt, dazu kommen noch gänzlich unerforschte sowie Terpene, Flavonoide, Lipide, Phenole und weitere sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe. Ihre gegenseitige Verstärkung/Abschwächung einzelner Effekte nennt sich „Entourage Effekt“ – der Unterschied ist so drastisch wie Tag und Nacht.

Wann hast du zum ersten Mal medizinische Cannabisblüten erhalten, und was hat es bewirkt?

Dom: Dezember 2017 bekam ich die „befristete Kostenübernahme“. Ich wurde gerade für DIE ZEIT interviewt, das blieb dann unveröffentlicht, da mein Problem mit der Kasse – vorläufig – geklärt schien. Meine Existenz hat sich darauf grundlegend verändert: Zum ersten Mal in zehn Jahren war ich nicht depressiv. Ich war gut drauf, fühlte mich besser und konnte wieder lachen. Davor habe ich so viele Opioide einnehmen müssen, dass ich nur noch dicht und vor mich hinvegetierend herumlag.

Cannabis gab mir mein Leben, ein stückweit, wieder zurück. Plötzlich konnte ich nachts wieder schlafen und tagsüber wach bleiben. Spastiken und Schmerzen sind nur noch eine 2 auf der Skala, keine 8 mehr. Meine Opioide reduzierte ich unbemerkt um 70 Prozent. Zwei weitere Medikamente, unter denen ich mich nie wohlfühlte, konnte ich ausschleichen und absetzen. Ich habe rund 20 kg Übergewicht verloren und kann sagen, es geht mir so gut wie seit Jahren nicht mehr, zumindest psychisch.

 

Du bist auch mit den Medizinblüten nicht ganz glücklich, da es immer wieder qualitative Mängel gibt. Welche Mängel sind dir persönlich oder von anderen Patienten bekannt?

Dom: Jein, das wäre zu hart dargestellt, denn ich bin in erster Linie überglücklich und dankbar, dass ich Cannabisblüten bekommen kann. Es ist aber korrekt, dass ich auch schon sehr schlechte Erfahrungen mit der Qualität gemacht habe. Vor allem der niederländische Hersteller Bedrocan hat schon freche Chargen ausgeliefert. Sogenannte „Mikro-Samen“ sind eines, konstante Überdüngung und sogar Schimmel sind das andere. Dazu kommt noch, dass es per niederländischem Gesetz nur exportiert werden darf, wenn es bestrahlt worden ist. Das schlägt sich meiner Meinung nach ebenfalls auf die Qualität nieder.

Unsere Politik will standardisierte Fertigarzneien. Ein Großteil der Patienten erklärt, dass ihnen richtige Cannabisblüten besser helfen. Sind diese qualitativen Mängel und die ungenügende Versorgung gewollt?

Dom: Die Lieferengpässe sowie die künstlich in die Höhe getriebenen Preise sind gewollt. Blüten werden künstlich verteuert und zu 23,50/g abgegeben – dennoch sind sie günstiger. Rechnet man sich nur einmal den jeweils enthaltenen THC-Gehalt aus, dann sind sie definitiv viel günstiger als Dronabinol und Sativex.

Deine multiple Sklerose war nicht immer so schlimm. Als junger Erwachsener wolltest du eine Reha-Ausbildung machen. Klappte das?

Dom: Ich hatte schon vor meiner Diagnose immer den Wunsch, eine Ausbildung zu machen. Leider hatte ich, unter anderem auch durch ADS, das Gymnasium schlagartig verlassen. Ich flog. Deshalb nutzte ich die Reha-Schiene und bekam eine exzellente Ausbildung in einem Berufsförderugswerk bezahlt. Das war superstressig, da es eigentlich eher zwei Lehren waren ... ich habe bestanden, aber der darauffolgende Leerlauf tat mir nicht gut. Vielleicht war es auch zu viel Stress: zwei Ausbildungen, ein Baby, Führerschein gemacht, Todesfall und PTBS in der Folge, und zu allem kam noch eine ausartende Opioid-Abhängigkeit dazu: Es war sehr hart, aber dementsprechend stolz bin ich über diese Leistung.

Opioide unterdrücken die Spastiken und Schmerzen, Cannabis macht das auch und verlangsamt zugleich das Fortschreiten der MS. Medizinalhanf verlängert dein Leben und macht es lebenswerter. Wieso wird dir das nicht gegönnt?

Dom: Ob es mein Leben verlängert, das kann ich nicht sagen. Aber das Plus an Lebensqualität macht die wenigen und allenfalls lästigen Nebenwirkungen vom Cannabis keineswegs weniger nervig. Das klingt vielleicht komisch, aber ich wende Cannabis nicht gerne an! Ich hatte über zehn Jahre mit dem Kiffen abgeschlossen und nur wieder angefangen, weil es so gut hilft und vor allem mit weniger Nebenwirkungen und ohne Abhängigkeit wie von Opioiden daherkommt.

Es geht hier nicht ums Gönnen, sondern um nichts anderes als PROFIT! Die „am schnellsten nachwachsende, einjährige Kulturpflanze“ kann man nicht patentieren, da ist kein Geld drin. Ich muss sowas wissen und die Zusammenhänge begreifen, schließlich bin ich Eurokaufmann, eingetragen und IHK-geprüft.

Wenn du ab deiner Jugend durchgehend medizinisch konsumiert hättest, dann könntest du heute vielleicht aus dem Haus gehen und arbeiten. Dir wurde davon abgeraten, während der Reha-Ausbildung wurde dir der Konsum sogar untersagt. Wie fühlt sich das an, so kaputttherapiert zu werden?

Dom: Für mich steht völlig außer Frage, dass ich heute besser dran wäre, wäre ich damals nicht in die Pharma-Falle getappt – aber hinterher ist man immer schlauer und außerdem wäre ich heute kein Kaufmann und auf ewig ungelernt ...

In deinen Videos wirkst du sichtlich zugedröhnt mit deinem Cocktail aus Opioiden und Cannabis. Sind diese „Nebenwirkungen“ noch angenehm?

Dom: Erstmal muss ich dir da entschieden widersprechen! „Zugedröhnt“ war ich von all den pharmazeutischen Produkten, die ich genommen habe. Ja, ich habe Augenringe und sehe krank aus – weil ich es bin! Mein Grad der Behinderung ist  90, mit 35 wurde ich in Rente geschickt. Ich sehe überhaupt nicht ein, dass ich permanent depressiv „mimimi“ machen soll, um in den Augen einiger Ignoranten „legitim“ zu wirken! Dafür ist mir meine Lebenszeit zu kostbar.

Was machst du den langen Tag?

Dom: Ich bin seit drei Jahren in der Wohnung gefangen und kann sie nur per Krankentransport verlassen. Aber das ist nicht mein einziges Problem, ich kann kaum noch sehen. Außerdem funktioniert die Feinmotorik nicht mehr richtig – lesen und zocken fallen als meine Lieblingshobbys aus. Ich würde gerne mehr Inhalte für meinen YouTube-Kanal uploaden, leider tue ich mich mit dem technischen Aspekt sehr schwer. Darum suche ich momentan nach Hilfe für meinen Kanal. Außerdem biete ich für medizinisches Fachpersonal Infogespräche über Cannabis als Medizin. Aber du kannst dir denken, wie gut ich als „Laie“ mit meinem Angebot bei Ärzten rüberkomme.

Trotz aller Bremsversuche kommt in Europa wenigstens die medizinische Cannabis-Legalisierung in Fahrt. Was erhoffst du dir von der kommenden Entwicklung?

Dom: Mein größter Wunsch in der Hinsicht ist, dass schwer- und schwerstkranke Menschen viel leichter Cannabis als Medizin bekommen!

Am Beispiel von Dom zeigt sich, dass gerade Patienten nicht noch Jahre Zeit haben, um die „Perfektionierung“ von Gesetzestexten abzuwarten. Diese lassen sich immer noch anpassen, die ruinierte Lebenszeit lässt sich nicht wiederholen. Wir wünschen allen Patienten die umgehende Verbesserung der medizinischen Versorgung und fordern die Legalisierung mit Eigenanbau für volljährige Bürger.

S
Soft Secrets