Trotz Krebs kein medizinisches Cannabis?!

06 Mar 2020
Es ist schon krass, wenn man von einem guten Freund erfährt, dass dieser eine seltene Art von Krebs hat und vielleicht nur noch zehn Jahre leben wird. Tom hat Cannabis bisher immer (nur) als alltagstaugliche Alternative zum Alkoholkonsum betrachtet, doch nun wurde Cannabis für ihn zu seiner wichtigsten und effizientesten Medizin. Doch die scheint ihm keiner zu gönnen - oder verdeutlicht das nur den Einfluss der mächtigen Cannabismedizin-Verhinderungs-Lobby?

Wie hast du gemerkt, dass mit dir gesundheitlich etwas nicht stimmt?

Im Frühling bemerkte ich einen rapiden Leistungsabfall beim Joggen. Zur Sicherheit ging ich im Mai zum Check meiner Lunge und für ein EKG zu meiner Hausärztin. Zusätzlich wurde dabei auch ein kleiner Bluttest durchgeführt. Meine Ärztin teilte mir dann mit belegter Stimme mit, dass die Laborwerte meiner roten Blutkörperchen katastrophal niedrig sind und ich sofort in die nächste Klinik fahren solle. Die nächsten Stunden erlebte ich wie in Trance. Ich kannte Krankenhäuser nur als Besucher und hatte bisher keine nennenswerte Krankenakte. Im Krankenhaus bekam ich  dann Bluttransfusionen und es wurden Proben aus meinem Rückenmark entnommen. Nach zwei Tagen wurde schließlich ein sehr seltenes, bösartiges und leider unheilbares, Lymphom - also eine Art von Blutkrebs - diagnostiziert. Mittlere Überlebenszeit für Erkrankte wie mich: 5 bis 15 Jahre.

Das haut einen natürlich erstmal komplett um - hast du dich trotzdem gleich über deine Erkrankung schlau gemacht?

Ja, und dabei hat mein Onkologe dann auch das "schöne" Bild geprägt, dass in meine „Blutproduktions-Fabrik“ Terroristen eingefallen wären, die man jetzt mit Handgranaten und schwerer Artillerie vertreiben müsse. Eine Chemotherapie ist wohl wie eine Panzergranate, welche alle Zellen - gute wie schlechte - platt macht. Unter anderem die Magenschleimhaut, da hier schnellteilende Zellen „leben“. Das wiederum führt zu heftiger Übelkeit und Erbrechen. Weitere häufige Nebenwirkungen sind Appetitlosigkeit, Schlafprobleme usw. Am dritten Tag hatte ich bereits meine erste Chemotherapie-Behandlung.

Dazu gab's dann sicherlich auch reichlich begleitende Medikation, oder?

Korrekt, zur Behandlung der beschriebenen Nach- und Nebenwirkungen wird standardmäßig ein pharmazeutischer Tabletten-Cocktail verschrieben. Bei mir waren es Medikamente gegen Übelkeit und Erbrechen, Schlaftabletten und diverse andere Tabletten. Insgesamt hatte ich eine morgendliche Ration von acht Tabletten zu schlucken. Ich nahm die verschriebenen Tabletten und trieb so den Teufel mit dem Beelzebub aus. Ich hatte zwar weniger Übelkeit, aber dafür heftige Verstopfungen. Durch die Schlaftabletten wurde ich unruhig und mein Schlafrhythmus war komplett dahin. Die lebensverändernde Diagnose hatte mir zudem den Appetit gehörig verdorben, so dass ich täglich spürbar abnahm.

Trotz-Krebs-kein-medizinisches-Cannabis?!

Wie schnell hast du dann Cannabis in einem ganz anderen Licht gesehen?

Da ich schon seit einigen Jahren ein Anhänger der gottgegebenen Heilpflanze Cannabis bin, habe ich natürlich sehr schnell an eine Medikation mit medizinischen Blüten gedacht. Bisher hatte ich Hanf hauptsächlich aus hedonistischen Gründen genossen, aber ich wusste von Freunden wie dir auch schon um die heilsame, medizinische Wirkung bei verschiedenen Krankheiten. Also habe ich direkt eine Woche später meinen niedergelassenen Onkologen vorsichtig auf medizinisches Cannabis als Alternative zu den vielen Tabletten angesprochen. Obwohl ich ihn schon länger privat und als durchaus offenen, kommunikativen Menschen kenne, war er in diesem Fall sehr zurückhaltend. Weil zu bürokratisch. Zu viel Aufwand. Zu teuer. Nicht genug Studien und Beweise für eine nachweisbare Wirkung. Hier kam ich also nicht weiter.

Was hast du dann probiert?

Um die Nebenwirkungen des Chemotherapie-Medikamenten-Cocktails abzumildern, versuchte ich eine Selbstmedikation mit hochdosierten CBD-Tropfen - leider ohne erwünschten Erfolg. Im örtlichen Headshop kam ich dann mit dem Inhaber ins Gespräch und er gab mir einen Tipp für einen Cannabis-affinen Arzt in meiner mittelgroßen Stadt im Bier-ist-Grundnahrungsmittel-und-keine-Droge-Land Bayern.

Immerhin eine Spur, der es sich nachzugehen lohnte, oder?

Klar. Bei dem empfohlenen Allgemeinarzt stieß ich auf offene Ohren und Anfang Juli schickte er den Antrag auf Kostenübernahme an meine Krankenkasse AOK Bayern. Mein Hausarzt hatte schon einige Anträge mit wechselndem Erfolg an diverse Krankenkassen eingereicht. Zwei Tage nach Einreichung des Antrags auf Kostenübernahme bekam ich die Nachricht, dass mein Antrag an den MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) weitergeleitet worden sei. Darin stand, dass ich innerhalb von fünf Wochen die Entscheidung mitgeteilt bekomme. Ich fand heraus, dass der MDK chronisch unterbesetzt ist und laut meines Hausarztes nicht gerade mit medizinischen Koryphäen, sondern eher mit „Teilzeit-Mutti-Ärztinnen“ daherkäme. Und dann war auch noch Sommer-Urlaubszeit. Also rechnete ich damit, dass die Maximalfrist von fünf Wochen ausgereizt wird. Was aber kein Problem darstellt, da gesetzlich festgelegt wurde, dass bei fehlender Rückmeldung der Antrag automatisch als bewilligt gilt.

Wie ging es dann für dich weiter?

Da mein Arzt hauptsächlich Schmerzpatienten und noch nicht viele Chemotherapie-Patienten mit Cannabis versorgt hatte, musste ich mich selbst einfuchsen und mit umfangreicher Internetrecherche die richtige Sorte und Dosierung herausfinden. Während der Genehmigungsphase hat ein Arzt nur die Möglichkeit ein Privatrezept  für medizinisches Cannabis auszustellen. In diesem Fall muss der Patient die Kosten aber komplett selbst tragen - und sie werden selbst bei einem positiven Bescheid nicht mehr nachträglich erstattet. Das kann schnell ziemlich teuer werden. Ich ließ mir notgedrungen ein Privatrezept für Cannabis-Blüten ausstellen und Bingo! Alle Symptome wie z.B. Rückenschmerzen, Tinnitus, Nachtschweiß, Übelkeit, Magenschmerzen, Appetitlosigkeit und Schlafprobleme reduzierten sich schlagartig oder verschwanden innerhalb von kürzester Zeit. Ganz ohne Nebenwirkungen - somit konnte ich alle Tabletten absetzen. Da ich mir aus Kostengründen nur eine kleine Menge Blüten verschreiben ließ und diese schließlich zur Neige gingen, wartete ich sehnsüchtig auf den positiven Bescheid der Kostenübernahme.

Wann kam dann der Brief und was stand drin?

Zwei Tage vor Ablauf der Maximalfrist kam dann tatsächlich Post. Ich öffnete noch freudig das Schreiben der AOK Bayern und war sofort auf 180 - denn ich hielt eine Ablehnung in der Hand. Nicht vom MDK, sondern von meiner Krankenkasse. Begründung: Da noch kein MDK-Gutachten eingetroffen sei, würde meine Krankenkasse den Antrag vorsorglich ablehnen. Sie begründeten ihre Absage also mit ihrer eigenen Unzulänglichkeit kein Gutachten ausstellen zu können. Ein starkes Stück!

Da hilft dann nur ein Widerspruch - hast du von diesem Rechtsmittel Gebrauch gemacht?

Natürlich habe ich sofort Widerspruch eingelegt. Das wurde mir sogar von einem Mitarbeiter der Krankenkasse am Telefon geraten. Er war voller Bedauern, aber sie hätten interne Vorgaben. Ihm seien die Hände gebunden - und ähnliche bekannte Ausflüchte. Und ein Schlupfloch für weitere Verzögerungen. Berichte in Internet-Foren sprachen von bis zu zwei weiteren Monaten. Ich war angepisst und des-illusioniert. Umso überraschter war ich, als eine Woche später dann doch ein sozialmedizinisches Kurzgutachten des MDK vorlag. Ich öffnete erneut voller Zuversicht meine Post - schließlich hatten mir zwei Ärzte jeweils eine eindeutige Empfehlung für medizinisches Cannabis ausgestellt und auch meine Medikamentenliste mit den aufgetretenen Nebenwirkungen lag dem Antrag bei. Es war aber eine erneute Ablehnung meines Antrages. Obwohl bei mir eine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert wurde, sei die Grundvoraussetzung für eine Cannabis-Behandlung nicht gegeben. Das (offensichtlich) schnell zusammengeschusterten Copy-&-Paste-Gutachten eines im Internet nicht auffindbaren Dr. Med. Gutachters strotzte vor Rechtschreibfehlern und Mehrfachnennungen. Darin wurde u.a. empfohlen, Appetitmangel mit Lieblingsspeisen zu begegnen, gegen Schlafstörungen wurden "Maßnahmen der Schlafhygiene" und Psychotherapie empfohlen und als Alternative zu Hanfblüten wurde das Medikament Canemes benannt. Ich hatte diesen Namen zum ersten Mal gelesen und gleich recherchiert. Canemes wird in Kapselform von AOP Orphan Pharmaceuticals AG, Wien vertrieben und enthält als Wirkstoff Nabilon. Laut Wikipedia ist das ein vollsynthetisches Derivat des Δ9-Tetra-Hydro-Cannabinols. Nabilon wurde 1975 vom Pharmariesen Eli Lilly patentiert. Noch Fragen?

Ja, einige. Gab es neben diesen seltsamen Alternativvorschlägen auch noch eine klare Begründung der Ablehnung deines Antrags?

Als Begründung für die Ablehnung wurden nur mehrmals fehlende randomisierte kontrollierte deutschen Studien angeführt. Das liegt wohl daran, dass es sich bei Cannabis um eine von heftigen Lobby-Interessen geblockte und immer noch illegalisierte Naturmedizin handelt. Studien zu einem so wirksamen Kraut werden hierzulande leider nur sehr spärlich finanziert - wenn überhaupt.

Wie hast du dann ganz konkret auf diese erneute Ablehnung reagiert?

Ich telefonierte sogleich mit meinem zugehörigen Krankenkassen-Mitarbeiter und er war auch nicht begeistert und könne mir nur raten Widerspruch einzulegen. Es könne aber Monate dauern bis ein Zweitgutachter Zeit dafür hätte. Und das bei völlig ungewissem Ausgang. Zur Not müsse ich zu einer Cannabis-freundlicheren Krankenkasse wechseln, was aber auch mit einer zweimonatigen Kündigungsfrist verbunden sei. Im besten Fall kann ich also erst vier bis fünf Monaten nach der Diagnose eine Kostenübernahme durch eine andere Krankenkasse erwarten.

Da müsste die Politik endlich konsequenter handeln...

Macht sie aber nicht. Anfang August 2019 wurde ja - nach mehrmonatiger Verzögerung - von unserem pharmafreundlichen Gesundheitsminister Spahn ein neues "Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung" auf den Weg gebracht. Ein Wechsel der Cannabisblüten bei einem positiven Erstbescheid benötigt nun keinen Neuantrag mehr, aber es ist auch weiterhin unmöglich, von einem Extrakt wie Dronabinol oder Sativex auf natürliche Blüten zu wechseln. Diese Entscheidungshoheit liegt immer noch bei den Krankenkassen bzw. dem MDK - und nicht etwa beim Facharzt, der das am besten einschätzen kann. Mit Maximalfrist und Gefahr der realen Ablehnung des Neuantrags.

Hast du auch schon mal daran gedacht, deine Medizin selbst anzubauen?

Schon, aber die unverhältnismäßige Strafverfolgung in Bayern macht diese Option für Familienväter wie mich leider nicht praktikabel. In anderen europäischen Ländern ist das bereits erlaubt, Tendenz steigend. Aber hier scheint die Zeit still zu stehen. Um diesen offensichtlichen Missstand besser zu verstehen, begann ich mich mit den Hintergründen der Cannabis-Prohibition zu beschäftigen. Und ich begann die Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen.

Klar, da geht's inzwischen um ein Milliardenbusiness...

Und es geht um mögliche Verluste. Von riesigen Pharmafirmen, für die Cannabis eine unliebsam-natürliche Alternative zu ihren Pharmazeutika darstellt, Chemiefirmen, die am liebsten nur Chemiefasern produzieren und Alkoholproduzenten, die wissen, dass Cannabis-User nachgewiesenermaßen weniger Alkohol konsumieren. Ist es da nicht durchaus vorstellbar und sogar logisch, dass hinter den Kulissen mächtige, mit immensen Geld- und PR-Mittel ausgestattete Lobbyisten der Großkonzerne einen politischen und medialen Abwehrkampf gegen diese für sie so gefährliche - weil geschäftsschädigende - Pflanze führen? Also ich kann mir das durchaus vorstellen.